Die lange Vorgeschichte des Willy Brandt Center

1996 wurde das Willy Brandt Center (WBC) auf Betreiben der Jusos gegründet. Dies knüpfte an Traditionen an, die bis in die fünfziger Jahre zurückgehen. Denn es waren (neben christlichen Jugendgruppen) fast ausnahmslos GewerkschafterInnen und SozialdemokratInnen, zumeist junge Menschen, die Kontakte in den neu entstandenen Staat Israel knüpften.

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der in den fünfziger Jahren noch mit der SPD verbunden war, wurde dabei ein wichtiger Pionier. Der SDS unterhielt seit 1951 Kontakte nach Israel und startete die Kampagne „Frieden mit Israel“. Ab 1957 organisierte der Studentenbund Reisen nach Israel. Auch Die Falken und die Gewerkschaftsjugend reisten bereits Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre nach Israel. Das waren keine einfachen Kontakte, es gehörte Mut dazu. Denn Deutsche waren im Land der Holocaust-Überlebenden oft nicht willkommen. Auch diejenigen Israelis, die die deutschen Gäste willkommen hießen und mit ihnen einen Austausch suchten, mussten sich teilweise gegen massive Anfeindungen wehren.

Die Linke in Deutschland verstand sich als eine Art „Avantgarde der Wiedergutmachung“. Dass Israel auf der Linken und bei der Jugend so viel Unterstützung mobilisieren konnte, lag nicht nur an dieser moralischen Frage. Der Aufbau dieses Staates faszinierte, weil die Israelis versuchten, viele sozialistische Prinzipien zu verwirklichen. Der große Einfluss der Gewerkschaft Histadrut, der wichtige Sektor der Gemeinwirtschaft und besonders die Kollektivsiedlungen (Kibbuzim) hatten große Anziehungskraft.

Die Solidarität mit dem Staat Israel war auf Seiten der Linken sehr groß und weitgehend frei von kritischen Stimmen. Für die SPD und auch für die Jungsozialisten galt das Gleiche. Dies hatte auch nach dem Junikrieg 1967 Bestand, als der Jungsozialisten-Bundesverband einen offiziellen „Freundschaftsbesuch“ in Israel absolvierte. Erst im Zuge des großen Mitgliederzuwachses Ende der sechziger Jahre und der Juso-Linkswende gab es auch andere Diskussionsansätze. Beendet wurde der überkommene Proisraelismus aber erst 1973, als sich der Juso-Bundeskongress erstmals israelkritisch äußerte. Israel solle sich aus den besetzen Gebieten zurückziehen und den Palästinensern im Rahmen einer gesicherten Eigenexistenz das Recht auf Selbstbestimmung zugestehen. Die Delegation der Jungen Garde der israelischen Arbeitspartei (Awoda) sprach von einer Unterstützung palästinensischer Terrororganisationen, verließ den Kongress und reiste ab.

Das Verhältnis der Jusos zu ihren israelischen Partnerorganisationen war ein ständiges Auf und Ab. Mal ging es bei den Auseinandersetzungen darum, ob und welche israelische Kandidatur die Jusos bei der Wahl der IUSY Vice Presidents unterstützten. Und mal ging es um inhaltliche Fragen, denn die Position der Jusos wurde nach und nach immer pro-palästinensischer. Dies galt insbesondere für die Zeit nach dem Libanonkrieg 1982, als der Antizionismus innerhalb der deutschen Linken auch bei den Jusos ihren Widerhall fand. Nicht nur bei der marxistischen Juso-Linken (Stamokap), sondern auch im undogmatisch-reformsozialistischen Flügel gab es zum Teil betont israelfeindliche Positionen. Die Awoda-Jugend bat Willy Brandt damals darum, wegen der Jusos und der Sozialistischen Jugend Österreichs aus der IUSY austreten zu dürfen.

In der zweiten Hälfte der Achtziger entstand als Gegenreaktion auch eine Debatte über die Gefahren des linken Antizionismus und der einseitige Parteinahme bei den Jusos. Im Jahr 1988 wurde Roby Nathanson, internationaler Sekretär der Awoda-Jugend, zum Juso-Bundeskongress eingeladen und konnte dort in einer unaufgeregten Atmosphäre sprechen. Er redete neben dem PLO-Repräsentanten Abdallah Franghi – eine wirkliche Diskussion war wegen des damals für Israelis geltenden Kontaktverbotes mit der PLO eigentlich nicht möglich. Es war das erste Mal, dass Jusos eine Art trilateralen Dialog probten.

1989 verabschiedete das Bundeskoordinierungstreffen der Juso-Hochschulgruppen ein Papier, das einen neuen Weg in der Nahost-Debatte zusammenfasst. „Antizionistische Kritik wird häufig dadurch begründete, dass Deutsche eine besondere Verpflichtung den Opfern gegenüber hätten“, erläutert der Beschluss. Doch „unsere angeblich besondere Sensibilität“ gebe weder das Recht noch qualifiziere sie zum „moralischen Urteil“. „Wer den Staat Israel in Frage stellt, bedroht subjektiv die Fortexistenz des Einzelnen“, heißt es in der scharf formulierten Abrechnung mit dem Antizionismus. „Kritik an Israel muss zwar nicht immer solidarisch oder konstruktiv sein – doch sie muss immer glaubwürdig sein. In diesem Sinne agieren die Jusos im Verständnis der deutschen Geschichte und der daraus folgenden besonderen Verantwortung für die heutige Nahostpolitik.“

Trotz dieser Schritte blieb das Interesse des Juso-Bundesverbandes an der Israel-Thematik eher gering. Die über den Jugendaustausch finanzierte Begegnung mit den israelischen Partnern blieb eine Pflichtübung, die von eher zufällig ausgewählten Delegationen ohne Bundesvorstandsbeteiligung betrieben wurde. Erst nach der Wahl von Ralf Ludwig – der bereits 1988 die Nathanson-Franghi-Debatte initiiert hatte –, der 1991 an die Spitze der Jusos rückte, änderte sich das Klima. Ludwig war noch vor dem Kongress nach Israel gereist. Mit diesem demonstrativen Besuch (gleichzeitig drohte Saddam Hussein im Zuge des Golfkriegs mit Giftgasangriffen) konnte er die schwer belasteten Beziehungen zur Awoda-Jugend kitten. Als Folge des damaligen Bundeskongresses wurde eine Juso-Projektgruppe Nahost ins Leben gerufen, deren Aufgabe zunächst die innerverbandliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit war.

1993 gab es das erste Mal wieder eine größere und hochrangige Delegationsreise in die Region, die sich aus Mitgliedern des Juso-Bundesvorstands und der Nahost-Projektgruppe zusammensetzte. Wenige Tage nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens nutzen die Jusos die Chance, auch nach Gaza und in die Westbank zu fahren, um dort mit politischen Aktivisten zu reden, die zuvor noch im Untergrund lebten. Dabei fanden Gespräche mit jungen Vertretern der Generalunion palästinensischer Studenten, der Fatah, der postkommunistischen Volkspartei und der linksintellektuellen Fida statt. Es gab eine große Aufbruchstimmung, was sich auch in den Treffen mit der Mapam-Jugend und der Awoda-Jugend bestätigte. Tatsächlich sind die ersten Ideen eines trilateralen Zentrums, in dem sich die Jusos kontinuierlich für einen Friedensprozess engagieren, damals entstanden.

Ein Ansporn war aus Juso-Sicht das erfolgreiche Engagement der Schwedischen Sozialistischen Jugend SSU, die im Vorfeld der Oslo-Verhandlungen junge Vertreterinnen und Vertreter der israelischen und der palästinensischen Seite an einen Tisch gebracht hatte. Diese Gespräche zwischen Awoda- und PLO-Jugenddelegierten in Schweden galten als ein erfolgreicher Probelauf, der die anschließenden Bemühungen der norwegischen Sozialdemokraten ermöglichten.

1994 fand die erste gemeinsame Delegationsreise statt, an der Israelis und Palästinenser teilnahmen. Sechs Awoda-Vertreter, zwei Fatah-Leute und je einer von der Fida- und der Volkspartei-Jugend reisten quer durch Deutschland (und zum Europäischen Parlament) und unterzeichneten am Ende eine gemeinsame Erklärung. Als „praktischer Schritt“ enthielt das Papier das Versprechen, „Möglichkeiten zur Errichtung eines Begegnungszentrums für junge Leute in Jerusalem zu prüfen, um weiteren Kontakten auf einer regelmäßigen Basis für alle drei Partner zu dienen und die in Deutschland begonnenen Kontakte zu stärken“.

In der Folgezeit gab es mehrere weitere Treffen zwischen Jusos und Vertretern der Awoda- und der Fatah-Jugend, die inzwischen als Beobachter in IUSY aufgenommen wurde, um den Weg in Richtung einer Zentrumsgründung vorzubereiten. Dabei konzentrierten sich die Jusos auf diese beiden Organisationen. Die linkssozialistische Mapam-Jugend befand sich eh in Auflösung und in einem Übergangsprozess hin zu Meretz. FIDA und die Palästinensische Volkspartei blieben ohne wirklichen Rückhalt in der Gesellschaft.

1996 erfolgte dann der große Schritt, ein Meilenstein in der Geschichte der Jusos. Eine Juso-Delegation unter der Leitung der Vorsitzenden Andrea Nahles reiste in die Region mit dem klaren Auftrag, ein Zentrum für Begegnung und Verständigung zu begründen. Nach mehreren vorbereitenden Gesprächen auf beiden Seiten trafen sich die drei Delegationen in Ramallah zu trilateralen Verhandlungen. Nach viel Hin und Her war es am Ende des Tages so weit: Ofer Dekel, Sabri Tomezi und Andrea Nahles unterzeichneten den Vertrag. Die Bezeichnung „Willy Brandt“ war zwar schon lange Konsens zwischen den drei Seiten, aber es bestanden Unklarheiten hinsichtlich der Namensrechte. Deswegen wurde zunächst nur festgehalten, dass das gemeinsame Begegnungs- und Verständigungszentrum an das Erbe Willy Brandts erinnere. Das dies ein wirklich existierendes Haus wird, war damals eine Vision. Tatsächlich dauerte es noch ein paar Jahre, bis das Willy Brandt Center in Abu Tor eröffnet wurde.

Harald Schrapers

aus: Jusos in der SPD (Hg.): 20 Jahre Willy Brandt Center, Berlin 2016, S. 10 ff