Frank-Walter Steinmeier: Über Grenzen hinweg

SteinmeierDeutschland und Israel sind 70 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah einen langen Weg der Versöhnung miteinander gegangen. Seit der ersten Akkreditierung unseres deutschen Botschafters nach dem Zweiten Weltkrieg im August 1965, der von der israelischen Bevölkerung alles andere als herzlich empfangen wurde, ist ein Vertrauensverhältnis, ja sogar eine Freundschaft zwischen Deutschen und Israelis gewachsen.

Umso mehr bereitet mir die Welle von Gewalt Sorge, die der Nahe Osten derzeit einmal mehr erlebt, ob in Israel, im Westjordanland oder in Gaza. Es ist furchtbar, dass Menschen in Angst leben müssen und auf der Straße Opfer von Gewalt werden.

Aus der Spirale des gegenseitigen Misstrauens herauszufinden, ist nicht leicht. Um die Richtung zu ändern, brauchen beide Seiten Mut zu schwierigen Entscheidungen.

Dass immer wieder Brücken der Verständigung zwischen Israel und Palästina entstehen, verdanken wir in ganz besonderer Weise der Jugendarbeit des Willy Brandt Centers Jerusalem. Unter den zahlreichen Austauschprogrammen für Jugendliche, die die Bundesregierung und das Auswärtige Amt fördern, ist dieses Jugendbegegnungsprogramm einzigartig. Das Willy Brandt Center Jerusalem bringt junge Menschen aus Israel und Palästina mit deutschen Austauschpartnern zusammen, zumeist in Deutschland. Das gemeinsame Arbeiten an Projekten in den Bereichen Politik, Bildung und Kultur ermöglicht ihnen, Vorurteile abzubauen und nach gemeinsamen Lösungen für eine bessere Zukunft zu suchen.

Ich könnte zahllose bewegende Beispiele aufzählen, an denen deutlich wird, wie nachhaltig dieser Austausch in den Herzen der Jugendlichen wirkt. Eines möchte ich stellvertretend herausgreifen: Im Sommer 2010 kamen junge Musiker und Musikerinnen aus Israel und Palästina nach Berlin, um einen Videoclip für das Projekt „Hip Hop and Spoken Word“ aufzunehmen. Während ihres Besuchs kam es zum sogenannten Ship-to-Gaza-Zwischenfall, bei dem neun Menschen in Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten getötet wurden.

Auch in Berlin fanden aus diesem Grund unter dem Slogan „Free Gaza“ mehrere Demonstrationen statt. Die palästinensischen Jugendlichen wollten, sehr zum Missfallen der Jugendlichen aus Israel, unbedingt daran teilnehmen. Als sie die Israelis aufforderten, sich zu positionieren, kam es zum offenen Streit. Daraufhin kündigten die palästinensischen Jugendlichen die Zusammenarbeit auf, brachen die begonnene Videoaufnahme ab und wollten beim geplanten gemeinsamen Konzert nicht mehr auftreten.

Einmal mehr schien ein aussichtsreiches Projekt am aktuellen Konflikt gescheitert. Das Willy Brandt Center Jerusalem hielt dennoch am Konzertauftritt fest. Die israelischen Jugendlichen sollten ein paar Songs spielen, dann wollten sie mit dem Publikum diskutieren.

Der Abend war sehr gut besucht. Die Israelis gingen auf die Bühne, begrüßten das Publikum mit Shalom, Salam und Guten Abend. Etwas verhalten begannen sie, das erste Lied zu spielen, als zur Überraschung aller die palästinensischen Musiker durch den Zuschauerraum auf die Bühne stürmten, sich die restlichen Mikrophone schnappten und ins Publikum riefen: „We are the Hip Hop Hudna!“ Hudna ist das arabische Wort für Waffenstillstand. Das Album, das auf Grundlage dieses improvisierten Konzertes aufgenommen wurde, erhielt später den „Europeans for Peace“-Preis der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft für das beste Jugendprojekt seines Jahrgangs.

Es sind solche Momente, die mich optimistisch stimmen. Sie zeigen, dass hier wie dort eine Generation heranwächst, die bereit ist, auf ihr Gegenüber zuzugehen, eine Generation, die kritische Fragen stellt – an die Politik der eigenen ebenso wie an die der anderen Regierung. Vor allem aber erleben wir eine Generation, die neugierig ist aufeinander und auf die Welt und die international denkt und lebt.

Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich: So unfriedlich die Welt auch sein mag – unsere Vision für die Zukunft bleibt eine gerechte und umfassende Lösung für den Nahost-Konflikt. Eine Lösung mit zwei Staaten, in der Israel und ein souveränes und lebensfähiges Palästina in Frieden und Sicherheit leben und sich gegenseitig anerkennen.

Deshalb danke ich dem Willy Brandt Center Jerusalem und sage herzlichen Glückwunsch zu 20 Jahren erfolgreichen Brückenbauens! Bitte macht weiter so!

aus der Broschüre „Partner for Peace“, die anlässlich des 20-jährigen Bestehens des WBC erstellt wurde.