Gründungsgeschichte: Ein Blick zurück
Am 6. April 1996 trafen sich in Ramallah die palästinensische Schabibe (Jugendorganisation der Fatah-Bewegung), die israelische Mischmeret Tsirah (Jugend der Arbeitspartei Awoda) und die Jusos, um das Willy-Brandt-Zentrum zu gründen. Aus heutiger Sicht sind allein die äußeren Umstände dieses Treffens bemerkenswert. Damals konnten die beiden Mischmeret-Tsirah-VertreterInnen, Ofer Dekel und Sarah Gungle, nach Ramallah reisen und wir saßen mit ihnen in den Räumlichkeiten der Fatah zusammen. Heute ist es Israelis verboten, nach Ramallah oder ein andere Stadt zu reisen, die in den palästinensischen Autonomiegebieten liegt. Außerdem begleitete Fatah-Generalsekretär Marwan Barghuti die trilateralen Verhandlungen, weil er sein Büro in einem Nachbarraum hatte. Heute sitzt er in einem israelischen Gefängnis, verurteilt zu mehrfach lebenslanger Haft. Damals wie heute galt Marwan Barghuti als ein Hoffnungsträger der jungen Generation in Palästina.
1996 war Begegnung noch möglich, und vor diesem Hintergrund ist das Entstehen des Willy Brandt Center (WBC) zu verstehen. Die Jusos hatten die Öffnung, die sich aus dem Oslo-Vertrag ergab, genutzt und beharrlich an der Idee gearbeitet. Mehrere Verhandlungen und Treffen in der Region und in Deutschland haben die Vertragsunterzeichnung vorbereitet. Die Jusos hatten eine eigene Projektgruppe Nahost, die die Verhandlungen vorantrieb. Auch Andrea Nahles legte als Juso-Bundesvorsitzende ihr ganzes persönliches Gewicht in die Gespräche, um Ofer Dekel und Sabri Tomezi, den palästinensischen Vorsitzenden, zur Vertragsunterzeichnung zu drängen.
Diejenigen, die sich damals in Ramallah getroffen haben, waren optimistisch, obwohl sie die ersten Klimaveränderungen mitgekriegt haben. Einige, die damals am Tisch gesessen haben, haben die Ermordung Jitzchak Rabin im Jahr zuvor miterlebt. Dies war nicht nur ein persönlich einschneidendes Erlebnis. Sondern alle spürten, dass damit der Friedensprozess eine Wende genommen hat. Auch die Vertreter der Schabibe zeigten sich damals getroffen und sagten sofort, dass sie große Befürchtungen hätten. Im Nachhinein muss man sagen: die Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Der Friedensprozess hat sich nie mehr von Rabins Tod erholt. Kurze Zeit später gab es zudem die ersten palästinensischen Selbstmordanschläge in Israel, was eine neue Dimension der Auseinandersetzung und des gegenseitigen Misstrauens mit sich brachte.
Die drei Jugendorganisationen stellten sich dieser Entwicklung entgegen. Der jungen Generation käme dabei eine besondere Verantwortung zu, war die feste Überzeugung. Deswegen hatte man den festen Willen, den Vertrag an diesem Tag zu unterzeichnen, auch wenn man dabei um jedes Wort rang. Die beiden Israelis waren dabei im ständigen telefonischen Kontakt mit ihrer Parteizentrale in Tel Aviv, und die sechs verhandelnden Palästinenser um Sabri Tomezi und Samer Singilawi nutzten den kurzen Weg zum Fatah-Generalsekretär.
Die sechsköpfige Juso-Delegation betätigte sich als unermüdlicher Mittler zwischen den beiden Seiten. Sie hatten den Computer in Beschlag genommen und tippten immer wieder neue Formulierungsvorschläge, Änderungen und Kompromisse ein, druckten sie aus und legten sie den beiden Seiten vor. Am Ende waren sie erfolgreich.
Dass der Vertrag heute immer noch gilt, ist beinahe schon ein Wunder. Auch wenn die Situation 1996 schon eingetrübt war: es kam noch schlimmer. Sicherlich gab es mal bessere und mal schlechtere Zeiten. Aber im Großen und Ganzen entwickelten sich die Rahmenbedingungen eindeutig zum Negativen.
Der 3. Oktober 2003, der wohl zweitwichtigste Tag in der Geschichte des WBC, befand sich mitten in der zweiten Intifada. Trotzdem schaffte es das WBC damals, sein neues Haus in Abu Tor zu eröffnen und war stolz auf die beeindruckende Begegnungsmöglichkeit oberhalb der Altstadt von Jerusalem. Dass das Zentrum als Haus in Jerusalem sichtbar wird, war 1996 noch eine Utopie. Zwar schauten wir schon damals nach einem schönen Ort für das WBC, etwa in der Nähe des Damaskustores. Auch dort teilt die Grüne Linie die Stadt in eine Ost- und eine Westhälfte. Doch wovon hätten wir solch ein Projekt mit eigenem Personal und Räumlichkeiten bezahlen können? Dies wurde erst möglich, als Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ein Programm für den Zivilen Friedensdienst in Leben rief, an dem sich das WBC beteiligen konnte.
Bemerkenswert ist, dass mit den Jusos eine deutsche linke Jugendorganisation dieses große Engagement zeigte und bis heute daran festhält. Ab Mitte der siebziger Jahre waren die Jusos explizit palästinafreundlich, davor waren sie israelfreundlich. In den neunziger Jahren hatte sich das erneut geändert. Es gab eine Gruppe von Jusos, insbesondere in der 1991 gegründeten Projektgruppe Nahost, die sich sowohl als israel- als auch palästinafreundlich definierte. „Doppelte Solidarität“ wurde das Konzept später genannt.
Die Jusos waren der Überzeugung, dass sie im Nahen Osten eine Rolle spielen können, die sie von ihren Partnerorganisationen in Skandinavien, Frankreich oder Italien unterscheidet. Das hat etwas mit der deutschen Geschichte zu tun, die so schicksalshaft mit der Geschichte der Juden in Israel verknüpft ist. Die Zeit der Wiedergutmachung, als die ersten linken Jugendorganisationen in den fünfziger und sechziger Jahren nach Israel reisten, ist lange vorbei. Doch es bleibt die Verantwortung vor der Geschichte. Die Jusos damals hatten und haben bis heute den Eindruck, dass es gut ist, in den Nahen Osten zu reisen, ohne schon alles ganz genau zu wissen und den Friedensplan in der Tasche zu haben. Und bevor man ein Urteil fällt, lieber noch einmal zusätzlich nachdenken und versuchen, sich in die Haltung der beiden Seiten vor dem Hintergrund der jeweils subjektiv verstanden Geschichte hineinzuversetzen. Für die Kontakte mit den israelischen Partnern ist dies sehr hilfreich – und für die Kontakte nach Palästina auch.
Kerstin Griese / Harald Schrapers
Aus: Partner for Peace – Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Willy-Brandt-Zentrum Jerusalem, Berlin 2017, S. 9–11.